3. KAPITEL

Ami Vergano nahm sich ihre Handtasche und schloss die Haustür ab. Ryan stopfte den Baseball in seinen Handschuh und lief zu ihrem Kombi voraus. Ami blieb mit der Hand auf dem Türknauf stehen, als sie überlegte, ob sie das Licht im Wohnzimmer ausgeschaltet hatte. Dann fiel ihr der Beutel mit Ryans Essen ein. Sie schloss die Tür wieder auf und lief in die Küche.

»Wir kommen zu spät, Moni!« rief Ryan besorgt. Das wusste Ami bereits. Sie trug immer noch den blauen Hosenanzug und die graublaue Bluse, die sie auf der Arbeit getragen hatte, weil sie keine Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen. Ein Klient hatte sie endlos am Telefon festgehalten, und sie war wie eine Verrückte nach Hause gerast, um Ryan noch rechtzeitig zu seinem Baseballspiel zu bringen. Der Job einer berufstätigen, alleinerziehenden Mutter war nicht leicht. Ryan entschädigte sie jedoch für all die Hetzerei und den Stress. Jedes Mal, wenn sie anfing, sich zu bemitleiden, schaute Ami ihren Sohn an, und ihr wurde wieder bewusst, wie viel Glück sie gehabt hatte, trotz allem, was passiert war.

Nach ihrem Juraexamen hätte sich Ami niemals träumen lassen, dass sie jemals in so eine schwierige Lage kommen würde. Sie war mit Chad Vergano verheiratet, der Liebe ihres Lebens, und gerade von einer kleinen Kanzlei in Portland eingestellt worden. Als Ryan geboren wurde, sah ihre Zukunft rosig aus. Doch das Leben versteht es, böse Streiche zu spielen. Als Ryan fünf war, starb Chad bei einem Motorradunfall. Sie hatten nur eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen, und weder ihre noch seine Eltern waren finanziell sonderlich gut gestellt. Also musste Ami von ihrem kleinen Gehalt bei der Kanzlei leben. Wenig später wurde die Kanzlei aufgelöst. Ami fand wegen der angespannten Wirtschaftslage keinen Job in einer neuen Kanzlei und war gezwungen, sich selbständig zu machen. Gute Freunde vermittelten ihr ab und zu Fälle, so dass sie sich allmählich einen Stamm von Klienten aufbauen konnte. Als alleinerziehende Mutter konnte sie jedoch nur selten Mandanten oder Fälle annehmen, die zu viel von ihrer Zeit in Beschlag nahmen. Deshalb musste sie mit einem schmalen Budget haushalten und beten, dass sie niemals ernstlich krank wurde.

Ami stieg in den Wagen. »Fahr endlich los!« rief Ryan ungeduldig, während sie den Sicherheitsgurt anlegte. Daniel Morelli sprang auf den Rücksitz. Eigentlich hätte der Erwachsene neben Ami sitzen sollen, aber Daniel war ein gutmütiger, einfühlsamer Mensch. Er wusste, wie gern Ryan vorn saß und tat, als wäre er der Mann im Haus.

Das Baseballspiel fand auf dem Spielfeld hinter der örtlichen Middleschool statt. Sie trafen drei Minuten vor Spielbeginn ein. Ryan stürzte aus dem Wagen und rannte zu seinen Mannschaftskameraden, die sich um Ben Branton scharten. Bens Sohn spielte auf der dritten Base, und sein Familienunternehmen, Branton Cleaners, sponserte die Mannschaft.

Morelli sah, wie Ami ihren Sohn beobachtete und lächelte.

»Er ist ein richtiger Wildfang.«

Ami erwiderte sein Lächeln. »So schlimm ist er gar nicht. Er ist einfach nur so aufgeregt.«

Ben Branton sah Morelli und winkte ihn zu sich. Die beiden Männer hatten sich bei Ryans letztem Spiel kennengelernt.

»Dan, können Sie mir einen Gefallen tun? Normalerweise hilft mir Rick Stein aus, aber sein Andy ist krank, deshalb kommt er heute nicht. Könnten Sie heute als mein Assistenztrainer einspringen?«

»Kein Problem. Was soll ich tun?« Brandon reichte Morelli einen Plan auf einem Klemmbrett und einen Kugelschreiber. Er erklärte Morelli gerade seine Aufgabe, als der Schiedsrichter die Trainer auf das Spielfeld rief. Ami setzte sich zwischen zwei andere Mütter.

Ryans Mannschaft gelang im zweiten Inning ein Homerun. Zwei Innings später glich das andere Team aus. Ami jubelte wie die meisten anderen Eltern, als Ryan ein guter Schlag gelang. Die einzige Ausnahme bildetet Barney Lutz. Lutz war ein schwerer Mann mit einem Bierbauch und breiten Schultern, die er seiner Arbeit auf dem Bau verdankte. Sein schwarzer Bart und seine finstere Miene schüchterten Ryan ein. Barneys Sohn Tony war ebenfalls ein ziemlich Brocken und niemand mochte ihn oder seinen Vater. Sie waren Rowdys und schlechte Verlierer. Ben Branton musste ständig Tonys Attacken gegen seine Gegenspieler und sogar seine eigenen Mannschaftskameraden unterbinden. Bei Spielen stand Barney meistens hinter dem Backstop, verhöhnte die gegnerische Mannschaft oder kommandierte Tony und seine Mitspieler herum. Ben Brantons Versuche, Barney zu mäßigen, verhallten häufig ungehört.

Der Ärger begann im fünften Inning, als Tony eine Base eroberte und versuchte, eine zweite zu erlaufen. Ben befahl Tony, auf der ersten Base zu bleiben, aber sein Vater blaffte ihn an, er solle es versuchen. Tony war fett und viel zu langsam. Der rechte Feldspieler warf den Ball zum zweiten Basemann, der alle Zeit der Welt hatte, den Wurf zu fangen. Tony sah, dass er beim zweiten Base rausgeworfen werden würde und wusste, dass er es auch nicht mehr rechtzeitig zum ersten zurück schaffen würde. Frustriert wurde er kurz vor der zweiten Base langsamer. Als der zweite Basemann versuchte, ihn abzuschlagen, streckte Tony beide Hände aus. Der Junge war gerade halb so groß wie Tony, und der Stoß schleuderte ihn auf den Rücken. Der Schiedsrichter und beide Trainer liefen auf das Spielfeld, um nachzusehen, ob der Junge verletzt war. Das Kind weinte zwar, aber mehr vor Schreck denn vor Schmerzen. Während sich sein Trainer um den Jungen kümmerte, nahm Ben Tony beiseite und schimpfte ihn aus.

Zwei Polizisten beobachteten das Spiel. Ami hatte gesehen, dass einer von ihnen den Werfer der gegnerischen Mannschaft angefeuert hatte, und vermutete, dass er der Vater des Jungen war. Die Beamten schlenderten zum Rand des Innenfelds, während Barney Lutz zu Ben stampfte. Morelli stand ein Stück abseits und sah gelassen zu.

»Das war einfach schrecklich!« sagte Ben Branton zu Tony, als Barney Lutz neben ihm auftauchte. Ben sah ihn über Tony hinweg an.

»Ich lasse Tony heute nicht mehr spielen«, erklärte er, »und nächste Woche wird er auch nicht aufgestellt.«

»Unfug! Mein Junge spielt einfach nur aggressiven Baseball. Der zweite Basemann hat unfair blockiert.«

Ben Branton war ein schlanker, intellektuell wirkender Mann, der gut zehn Zentimeter kleiner war als Barney Lutz, aber er ließ sich nicht einschüchtern.

»Ich nehme Tony raus.«

»Nein, das machst du nicht!«

»Das muss ich, Barney. Er sucht immer nur Streit. Damit gibt er den anderen Kindern ein sehr schlechtes Beispiel.«

»Hör zu, mein Junge hat einfach nur mehr Mumm als andere. Wenn diese verwöhnten Gören genauso hart spielen würden wie Tony, würden wir auch mal ein paar Spiele gewinnen.«

»He!« mischte sich Morelli ein. »Könnten Sie sich vielleicht ein bisschen zurückhalten? Hier sind Kinder!«

Barney Lutz starrte Morelli böse an. »Mit dir rede ich gar nicht, also verpiss dich!«

»Barney«, fuhr Branton fort, »ich muss Tony für den Rest des Jahres herausnehmen, wenn du nicht aufhörst.« »Du nimmst gar keinen raus, du Tunte! Ab heute bin ich der Coach. Also mach dich vom Acker!«

Lutz drehte sich zu Morelli herum. »Gib das her!« blaffte er und griff nach dem Klemmbrett. Ben packte Lutz am Unterarm. Der vierschrötige Mann riss sich los und holte aus, um den Trainer zu schlagen. Branton wich vor dem drohenden Schlag zurück und stolperte dabei über seine Füße. Als der Trainer zu Boden ging, schlug Morelli mit dem Rand des Klemmbrettes zu und zertrümmerte Lutz das Handgelenk. Der Mann wurde kreidebleich vor Schmerz und schwang seinen Kopf zu Morelli herum. Dabei entblößte er seinen fleischigen Hals. Eine Sekunde rammte Morelli ihm den Kugelschreiber in den Hals. Der Hüne riss die Augen weit auf, seine Hände zuckten hoch, und dann stürzte er wie ein Sack zu Boden. Ben Branton sah entsetzt zu, wie sich Lutz gurgelnd vor ihm auf dem Boden wand.

Die Polizisten waren auf das Spielfeld gestürmt, als Lutz zu seinem Schlag ausholte. Noch während der stämmige Mann zu Boden ging, umklammerte einer der Beamten Morelli. Ami sah, wie der Polizist unmittelbar darauf durch die Luft flog. Eine Staubwolke stieg auf, als er mit der Schulter voran im Dreck landete. Morelli kauerte sich hin, spitzte seine Hand zu einem Speer und zielte mit den Fingerspitzen auf den hilflosen Beamten. Der zweite Polizist zog seine Waffe und feuerte. Morelli richtete sich halb auf und wirbelte herum. Der Beamte feuerte noch einmal, und Morelli sackte zusammen. Um Ami herum herrschte fassungsloses Entsetzen. Die Zuschauer schrien durcheinander. Ami hörte jedoch nur, wie ihr Sohn »Dan!« brüllte, während er zu seinem gefallenen Helden rannte.

Ben Branton hatte sich nicht gerührt, seit Morelli dem wütenden Barney Lutz den Kugelschreiber in den Hals gerammt hatte, und er hatte auch nicht reagiert, als der von dem Beamten niedergeschossen worden war. Ryans Schreie rissen ihn aus seiner Trance. Der Polizist hörte die Schritte des Jungen und wirbelte mit der Waffe im Anschlag herum

»Nein!« schrie Ben, als er sah, wie der Beamte die Mündung seiner Waffe auf Amis Sohn richtete. Beide, der Polizist und Ryan, erstarrten mitten in der Bewegung. Ben lief zu Ryan und nahm ihn in seine Arme.

Der Polizist mit der Waffe wirkte genauso benommen wie alle anderen Zuschauer. Auf der Tribüne riefen entsetzte Eltern mit ihren Handys die Polizei. Eine Mutter und ein Vater stürmten auf das Spielfeld. Sie erklärten dem Polizisten, sie seien Ärzte. Der Beamte, der versucht hatte, Morelli festzuhalten, verzerrte das Gesicht vor Schmerz. Sein Schlüsselbein war gebrochen, doch er winkte die Ärzte weg und befahl ihnen, sich um Lutz und Morelli zu kümmern.

Ami nahm Ben ihren Sohn aus den Armen, aber Ryan hatte nur Augen für Morelli. Um dessen Wunden hatten sich kleine Lachen aus Blut gebildet. Ami versuchte Ryan diesen furchtbaren Anblick zu ersparen und führte ihn langsam vom Spielfeld.

»Ma'am!« Der Beamte, der geschossen hatte, hielt sie auf. Ami blieb stehen. Er deutete auf Morelli.

»Kennen Sie diesen Mann?«

»Ja. Er ist mein Untermieter. Er hat dem Trainer geholfen.«

»Es ist in Ordnung, wenn Sie Ihren Sohn hier wegschaffen, aber ich muss Sie bitten, in der Nähe zu bleiben. Die Detectives werden Ihnen sicher ein paar Fragen stellen wollen.«

Ami nickte und führte Ryan benommen vom Spielfeld. Daniel Morelli wohnte seit zwei Monaten in ihrem Haus. Sie hatte ihn für einen ruhigen, freundlichen Menschen gehalten. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie sich so gründlich geirrt hatte

Die Schuld wird nie vergehen
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